Die rettende Unsichtbarkeit

von Will Cook

Rückblick:

"Heute hat schon wieder einer meiner Leser gekündigt. Ihm sei unsere Interpretation von der Rückkehr unseres Herrn im Jahr 1874 einfach zu abwegig." Nelson Barbour, der Herausgeber der Publikation "Herald of the Morning", "Herold des Morgens", blickte seinen neuen Partner sorgenvoll an. "Wenn es so weiter geht, dürfte es finanziell schwierig werden."

Der angesprochene neue Partner, Charles Taze Russell, teilte die Besorgnis seines adventistischen Kompagnons. Russell hatte Nelson H. Barbour, den Herausgeber des Blattes im Jahr 1876 kennengelernt, nachdem ihm im Januar des Jahres bei einer Bahnreise ein Exemplar von dessen Mitteilungsorgan in die Hände gefallen war. Er hatte in dem Adventisten Barbour offenbar einen Geistesverwandten erkannt und sich kurzerhand mit ihm zusammengeschlossen, da er dessen Auffassung von der Rückkehr des Erlösers grundsätzlich teilte.

Barbour und sein Mitarbeiter Paton waren wegen der von ihnen gepredigten und fehlgeschlagenen Endzeitverkündigung für das Jahr 1874 "gebrannte Kinder" und befanden sich ebenso wie der junge "Pastor" Russell in einer Glaubenskrise. Jahrelang hatten sie gepredigt und noch lange danach geschrieben, dass das zweite Kommen unseres Heilands und Herrn Jesus Christus im Jahr 1874 zu erwarten sei.

"Seit Oktober 1874 ist unser Herr, der berufene König, wieder gegenwärtig, denn so bezeugt es das prophetische Wort, und wer Ohren hat zu hören, der hört es. Seit April 1878 hat er seine königliche Macht an sich gezogen ..." (Charles Taze Russell, Schriftstudien Bd. 4, Der Krieg von Armageddon, 1886, dt. Ausg. 1926, S. 496)

Aber tatsächlich war nichts geschehen und jetzt bemühten sie sich gemeinsam um eine Erklärung für das Ausbleiben ihres so hoffnungsfroh erwarteten Ereignisses. Tapfer versuchten sie sich selbst einzureden, ihre Theorie für 1874 könne doch nicht so grundverkehrt gewesen sein.

"Ich denke, wir müssen daran festhalten, dass die 2520 Jahre seit König Nebukadnezzar und damit die vorhergesagten Zeiten der Nationen im Jahr 1874 abgelaufen sind und unser Herr Jesus Christus dann seine Herrschaft übernommen hat," erwiderte Charles. "Ein Irrtum ist ausgeschlossen." "Aber wie soll das dann geschehen und abgelaufen sein? Ich meine so, dass niemand von uns etwas bemerkt hat?" Nelson schienen seine Sorgen ins Gesicht geschrieben zu sein. "Und vor allem, wie sollen wir das unseren Lesern erklären?"

An dieser Stelle wusste auch der so redegewandte "Pastor" nicht weiter und ihre gemeinsame Unsicherheit hielt noch einige Zeit an. Bis Nelson seinen Partner eines Tags überraschend aufsuchte. Freudestrahlend schwenkte er einen Brief in der Hand, den er Charles triumphierend auf den Tisch legte.

"Das ist es, das ist die Lösung", verkündete er. "Wie soll ich das verstehen?" Charles konnte die Begeisterung seines Besuchers nicht teilen. "Einer unserer Leser, ein B.W. Keith, hat uns geschrieben und uns mitgeteilt, dass das in den griechischen Schriften gebrauchte Wort "Parousia" Gegenwart bedeutet. Eine Form einer fortdauernden Rückkehr des Herrn", erklärte ihm Barbour. Eine fortdauernde Rückkehr, also die Parousia, so Barbour, müsse logischerweise auch unsichtbar für menschliche Augen stattgefunden haben, wenn die eigentliche Gegenwart des Herrn offensichtlich auch unsichtbar sei.

Das überzeugte auch Russell und das wäre endlich der Schlüssel, nach dem Barbour, Paton und er bislang vergeblich gesucht hatten. Damit war das Erklärungsmodell der Unsichtbarkeit geboren. Gemeinsam mit Barbour und Paton entwickelte Russell den Gedanken von Keith weiter und so formulierten sie ihre Theorie von der unsichtbaren Rückkehr und fortdauernden unsichtbaren Gegenwart des Herrn im Jahr 1874. Damit konnten sie der verblüfften Welt erklären, dass sie mit ihrer ursprünglichen Prophezeiung doch recht gehabt hatten.

"Unsichtbare Wiederkunft und Gegenwart Christi" blieb zunächst ihr gemeinsames Lösungswort, bis Russell dieses im Alleingang für seine Publikationen übernahm und es nach seiner Trennung von den Adventisten zu einem festen Bestandteil der Lehre der Wachtturm-Gesellschaft machte, was bis heute der Fall geblieben ist.

Nachklapp:

So oder so ähnlich muss es gewesen sein, als das Wachtturmmodell der "rettenden Unsichtbarkeit" das Licht der Welt erblickte. Russell war ein Kenner der menschlichen Natur und wusste, wie man Eigenschaften wie Eitelkeit, Gefallsucht und Opportunismus für seine eigenen Zwecke nutzen konnte.

Kaum jemand würde sich gern als Zweifler outen, wenn er zugibt, dass es ihm an Überzeugung fehlt und er damit Schwierigkeiten hat, an die unsichtbare Gegenwart unseres Herrn und Erlösers zu glauben. Zumal dieser doch seinen Jüngern etwas ganz anderes über seine Wiederkunft mitgeteilt hat.

Aber Russell kannte seinen Andersen – die betrügerischen Schneider konnten nicht nur den Hofstaat und den Kaiser selbst von der Pracht seiner unsichtbaren Kleider überzeugen. Auch im Volk wollte sich niemand damit blamieren, dass es ihm an Intelligenz fehle, die prächtigen Gewänder zu erblicken.

Bis – ja bis ein unschuldiges Kind daherkam und ehrlich aussprach, was es sah, nämlich nichts.

Nur einen nackten Kaiser ...

Kommentare
01

Aus dem Märchen von H.C. Andersen: "In der großen Stadt, in der er wohnte, ging es sehr munter her. An jedem Tag kamen viele Fremde an, und eines Tages kamen auch zwei Betrüger, die gaben sich für Weber aus und sagten, dass sie das schönste Zeug, was man sich denken könne, zu weben verstanden. Die Farben und das Muster seien nicht allein ungewöhnlich schön, sondern die Kleider, die von dem Zeuge genäht würden, sollten die wunderbare Eigenschaft besitzen, dass sie für jeden Menschen unsichtbar seien, der nicht für sein Amt tauge oder der unverzeihlich dumm sei."

"Aber er hat ja gar nichts an!" rief zuletzt das ganze Volk. Das ergriff den Kaiser, denn das Volk schien ihm recht zu haben, aber er dachte bei sich: 'Nun muss ich aushalten.'

Guter Vergleich, dieses Märchen. Lustig auch das mit dem "Zeuge", obwohl hier der imaginäre Stoff gemeint ist. lach mich tot

Wie der König sind die ZJ von Betrügern verurteilt an etwas zu glauben, dass nicht existiert und wie er werden sie auch bei Zweifeln aushalten, damit sie ihren Fehler nicht eingestehen müssen.

G.H. [15.10.2011]

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Erstellungsdatum: 10.10.2011 ♦ DruckversionDownloadsLinks auf andere InternetseitenDatenschutzerklärungInhaltKontaktImpressum
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